Die ersten Menschen, die man am Beginn unserer Zeitrechnung „Atheist“ nannte, waren Juden, später auch Christen, in der hellenisierten Antike im Römischen Reich. Da die polytheistischen Religionen im Mittelmeerraum zu dieser Zeit vorherrschend waren, war es für die meisten Menschen normal, zusätzlich zu der eigenen Sammlung von GöttInnen auch die anderer Völker zu akzeptieren. Der strikte, intolerante Ein-Gott-Glaube im Judentum und dem darauf aufgebauten Christentum war in diesem Umfeld ein Fremdkörper und für die Gesellschaft nur schwer verständlich. Da bestimmte Glaubensinhalte und Rituale, z. B. Opfer an bestimmte GöttInnen im Römischen Reich verpflichtend waren, entstanden daraus Konflikte und Unterdrückung. Trotzdem herrschte im Römischen Reich im Vergleich mit dem europäischen Mittelalter eine enorme religiöse Toleranz und Vielfalt für den Großteil der Bevölkerung.
Im christlichen Europa der frühen Neuzeit wurde der Begriff neu entdeckt und diesmal auf Menschen angewendet, die nicht an den christlichen Gott (bzw. nicht an die „richtige“ Deutung, z. B. die drei Drittel davon) glaubten. Darauf standen drakonische Strafen. Trotzdem trauten sich Philosophen und andere Wissenschaftler immer mehr, von religiösen, aber staatlich vorgegebenen Lehren abzuweichen. „Atheist“ war jedenfalls sehr lang ein Vorwurf von anderen an jemanden, dem man „Gottlosigkeit“ vorwerfen wollte – eine Fremdbezeichnung also.
Mit dem Beginn der Moderne war es bereits in vielen Ländern möglich, offen gegen die Idee vom christlichen und anderen GöttInnen aufzutreten. Viele Menschen, die nicht mehr an GöttInnen glaubten, bezeichneten sich als Freidenker oder Rationalisten.
Im 20. Jahrhundert versuchten verschiedene diktatorische Systeme, Religionen zu unterdrücken und zu verfolgen. Eine komplette Ausmerzung ist ihnen auch in vielen Jahrzehnten (etwa in 70 Jahren in der Sowjetunion) nicht gelungen, und in vielen Fällen hat man sich darauf verlegt, die religiösen Strukturen für die Staatsmacht zu instrumentalisieren.
In freien und fortschrittlichen Gesellschaften verstärkte sich aber auch der Trend, nicht an althergebrachte, erfundene Dinge mit nachgewiesenermaßen schädlichen Folgen zu glauben. Internationale Abkommen wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte garantieren seit dem 20. Jahrhundert die Freiheit der Religionsausübung, aber auch die Freiheit von Religion.
Am Anfang des 21. Jahrhunderts mündete die Entwicklung im sogenannten „Neuen Atheismus“, der die von immer weniger Menschen vertretene Religiosität nicht mehr einfach erträgt und duldet, sondern sich aktiv dagegen und gegen die negativen gesellschaftlichen Folgen wehrt – mit Worten und Argumenten, versteht sich. Intellektuelle und Wissenschaftler wie Sam Harris, Christopher Hitchens und Richard Dawkins wurden in dieser Zeit mit ihrer fundierten Kritik, der die mit ganz anderen inneren Problemen kämpfenden Religionen nichts mehr entgegensetzen konnten, berühmt.
Bei aller Kritik an Religionen und religiösen Strukturen in demokratischen Staaten geht aber immer noch um Religionsfreiheit. Keine atheistische Organisation in einem demokratischen Land fordert die Beschränkung der Freiheit, religiöse Inhalte zu glauben oder Rituale (solange sie anderen nicht schaden) durchzuführen. Es hat sich aber immer gezeigt, dass das Vorhandensein einer Staatsreligion auch für andere Religionen, nicht nur für Menschen ohne Religion schädlich war.
Ungefähr gleichzeitig mit der Ausbreitung der Internet-Nutzung in den entwickelten Ländern begann ein bisher beispielloser Untergang der Religiosität in der Bevölkerung und der Mitgliedschaft in organisierter Religion. Zweifel an religiösen Behauptungen hatten Menschen immer schon; vor Ende des 20. Jahrhunderts war es jedoch für viele schwer, an schriftliches Material zu gelangen, um diese Zweifel bestätigt zu bekommen. Das ist anders, seit die meisten Menschen ständigen Internet-Zugriff haben. Zu jeder religiösen Frage liefern Suchmaschinen viele Treffer pro und kontra, und Menschen mit Zweifeln an oder Ablehnung von Religion können leicht Gleichgesinnte finden. Das ermöglicht ihnen, aus den engen Grenzen von gesellschaftlich vorgegebenen religiösen Zwängen auszubrechen.
Heute scheint der Trend weg von Religion in den entwickelten und gebildeten Gesellschaften unaufhaltsam zu sein. Dabei beobachten wir zumindest in urbanen Gebieten, wo die Mehrheit bereits nicht religiös gebunden ist, eine neue Entwicklung: Religion ist im Alltag einfach nicht mehr relevant. Erfundene Behauptungen können nicht mehr mit Berufung auf ein falsch verstandenes Verständnis für den Mehrheitsglauben als Fakt postuliert werden, sondern man erwartet auch, dass sie belegt werden. Religiöse Überlegungen spielen bei Entscheidungen keine Rolle, Rituale wie Taufe oder eine kirchliche Eheschließung werden nicht mehr durchgeführt. Ein ÖVP-Bundeskanzler wird Vater, ohne verheiratet zu sein, und das wird – richtigerweise – nicht einmal öffentlich diskutiert. Die Arbeit der „Neuen Atheisten“ von vor 20 Jahren wird zwar wertgeschätzt, aber nicht mehr im Alltag benötigt: Unbelegte religiöse Äußerungen und Gepflogenheiten einfach nicht zu beachten ist vollkommen akzeptiert. Und Tweets von Richard Dawkins etwa über Transpersonen ziehen Kritik gerade auch von humanistischen Gruppen nach sich.
Ein gutes Beispiel für die gesellschaftliche Abwendung von religösen Praktiken ist der selbst fürs Opfer vollkommen überraschende „Segen“ bei der freichristlichen Awakening-Konferenz 2019 in Wien. Ein australischer Prediger mit eher ungewöhnlichen Ansichten bat den kurz vorher in einem Misstrauensvotum abgewählten ehemaligen Bundeskanzler Kurz zu sich auf die Bühne und bat in einem tranceartigen Zustand um „Gottes Segen“ für seinen dümmlich grinsenden, vollkommen überrumpelten Gast. Das Video davon löste mit Häme und Amüsement verbundene Entrüstung aus. Dabei wird selbst bei katholischen Gottesdiensten manchmal für „Weisheit“ und „Kraft für die richtigen Entscheidungen“ bei PolitikerInnen gebetet – nur besucht diese Gottesdienste eben nur mehr eine sehr kleine Minderheit.
Wir sind definitiv noch nicht soweit, dass Religion für jene, die nicht freiwillig oder (im Fall von Kindern und Jugendlichen) unfreiwillig Teil einer religiösen Gemeinschaft sind, gar keine Rolle spielt. Wir finanzieren Religion noch immer massiv mit, Gesetze gegen „Herabwürdigung religiöser Lehren“ sind noch immer in den Gesetzesbüchern, auch wenn sie nicht mehr angewendet werden. Selbst der neu eingeführte Ethikunterricht wird durch Schlechterstellung gegenüber dem Religionsunterricht dafür genutzt, eben diesen dort abzusichern, wo noch keine ausreichende Anzahl von nicht religiösen SchülerInnen sich dafür entscheiden kann. Bei der Erarbeitung des Gesetzes über Beihilfe zum Freitod wird „vergessen“, die Organisation, die die alte Regelung beim Verfassungsgericht zu Fall gebracht hat, einzuladen – dafür sitzen wie selbstverständlich zahlreiche Vertreter der religiösen Gruppen, die sich überhaupt gegen eine Änderung aussprechen, mit im Gremium. Der österreichische Rundfunk strahlt, gesetzlich verpflichtet, regelmäßig „Gottesdienste“ aus, und schenkt nicht nur die Sendezeit her, sondern übernimmt auch die Produktionskosten dafür. Die Staatsanwaltschaft interessiert sich nicht für Beweise, die die katholische Kirche über alltäglichen sexuellen Kindesmissbrauch sammelt und in Archiven im Vatikan verschwinden lässt.
Es gibt also weiterhin etwas zu tun für atheistischen Aktivismus. Nur der Schwerpunkt verlagert sich: Im Wissen, dass die Bevölkerungsmehrheit bald nicht mehr religiös gebunden ist, können Gesetze und Strukturen, die auf der Idee einer ehemaligen Staatsreligion aufbauen, politisch und juristisch bekämpft werden. Es gibt noch genug Missstände: Mehrere Bundesländer regeln noch gesetzlich die Zurschaustellung von Folter-Deko in Klassenzimmern; katholische Privatschulen unterlaufen die Religionsfreiheit, indem sie die Abmeldung vom Religionsunterricht mit einem Ausschluss von der Schule verknüpfen. Dabei glauben nur mehr 30 % der als christlich eingestuften Jugendlichen an einen Gott (Jugendstudie „Lebenswelten 2020“, Seite 113). Steuergelder finanzieren eine vom Konkordat vorgegebene Anzahl von Theologie-Professuren an den öffentlichen Universitäten, aber die ProfessorInnen werden von der jeweiligen Kirche ausgewählt – währenddessen fällt die Anzahl der Theologiestudierenden stark, was ein stark verzerrtes Betreuungsverhältnis ergibt.
Bis wir in der post-religiösen Gesellschaft ankommen, in der Religion wirklich Privatsache ist, dauert es also noch. Säkularismus, also eine bewusste Trennung von Staat und Religion (wie etwa in Frankreich) ist eine wichtige Komponente davon, noch wichtiger ist aber die fortgesetzte Aufklärung, die eben dazu führt, dass eine nicht religiöse Bevölkerungsmehrheit entsteht. Dies wird das Zeichen für die Politik sein, diese Bevölkerungsgruppe ernster zu nehmen als bisher und auch in ihrem Sinne zu handeln.
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