Kirchliche Gewalt an Kindern in Österreich: Neue Recherchen

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In Österreich, anders als in vielen europäischen Ländern, gibt es nach wie vor keine Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs in der katholischen und anderen Kirchen. Es gibt eine „unabhängige“ Opferschutzkommission, die sich bei näherem Hinsehen als weder unabhängig noch seriös entpuppt. Und es gibt regelmäßig steigende Zahlen von nicht verjährten Gewaltverbrechen, wie die Kirche selbst berichtet – nur interessieren sich weder die Politik noch die Justiz dafür. Und die Öffentlichkeit sowie die Medien schauen weg.

Aktuelle Statistiken beim Medienreferat der Bischofskonferenz

Auf der Webseite www.ombudsstellen.at, betrieben vom Medienreferat der Österreichischen Bischofskonferenz, finden sich links in einem grauen Kasten Statistiken zur Tätigkeit der „unabhängigen“ Opferschutzkommission. Warum die Kommission ihre eigenen Statistiken nicht selbst publiziert, ist leicht zu erklären: Sie ist nur dem Namen nach unabhängig, dazu später mehr.
Von der Bischofskonferenz erfahren wir also, Stand 31. 12. 2023:
3.340 Fälle bearbeitet, weitere 178 sind in Bearbeitung. In 2.905 Fällen wurde zugunsten der Betroffenen entschieden. In 257 Fällen wurden keine Leistungen zuerkannt. 

3.340 minus 257 ergibt 3.083. Wie geht sich das mit 2.905 aus? Ganz einfach, die 178 in Bearbeitung sind nicht „weitere“ in Bearbeitung, sondern genau die Differenz. Ungefähr bei jeder zweiten Aktualisierung der Ombudsstellen-Seite sind solche Fehler in Volksschul-Mathematik enthalten, sie werden irgendwann stillschweigend korrigiert oder auch monatelang stehen gelassen.

Sind das jetzt viele Fälle oder wenige? Wie hat sich die Anzahl entwickelt? Von der Bischofskonferenz oder der Opferschutzanwaltschaft erfahren wir es nicht. Regelmäßiges Prüfen der Seite und das Abrufen von archivierten Versionen ermöglichen Berechnungen wie die Anzahl der neuen Fälle und ihrer Verteilung auf einzelne Jahrzehnte.

Die Seite beruhigt: „Die meisten Vorfälle sind rechtlich verjährt und haben sich hauptsächlich in den 1960er- und  1970er-Jahren ereignet…“. Aha, die meisten. Wie schaut’s mit den wenigen aus, die da nicht hineinfallen? Etwa jene seit 2000? (Die Verjährung ist kompliziert, aber in den meisten Fällen beginnt sie erst ab der Volljährigkeit des Opfers zu laufen und dauert mindestens 20 Jahre. Selbst in den 1990ern könnten noch Kindervergewaltigungsfälle passiert sein, die nicht verjährt sind – seit 2000 sowieso.) Jede verschleppte Aufklärung birgt die Gefahr, dass Täter noch immer aktiv sind und Kontakt zu Kindern haben.

Praktischerweise gibt es nach einer längeren Pause wieder die prozentuale Verteilung der Taten auf Jahrzehnte, nach einem seltsamen Einordnungssystem: 1950er und früher, 1960er, 1970er, 1980er, 1990er, und die mittlerweile 24 Jahre seit 2000, die für die strafrechtliche Bewertung eigentlich am interessantesten sind. Hier wird die Aufteilung in „2000er“ und „seit 2010“ von Jahr zu Jahr notwendiger. 

Aus den Prozentangaben und der Gesamtzahl lassen sich trotzdem Fallzahlen errechnen. Aktuell sind 44 Fälle seit 2000 berechenbar (aber natürlich nicht in dieser Form ausgewiesen). Das ist ein neuer, höchstwahrscheinlich nicht verjährter Fall seit der letzten Aktualisierung. Dazu kommen 134 in den 1990er-Jahren, 20 neue gegenüber den Zahlen von Ende 2022.

Das ist ein dringender Tatverdacht von nicht verjährten Verbrechen an Kindern und Jugendlichen, von der Kirche selbst freimütig ausgewiesen. Polizei und Staatsanwaltschaft müssen bei dieser Art von Straftaten („Offizaldelikten“) eigentlich von sich aus tätig werden, wenn sie von einem Verdacht erfahren: Hier ist der gut dokumentierte Verdacht, mindestens beim Medienreferat der Bischofskonferenz und bei der „unabhängigen“ Opferschutzanwaltschaft. In München gab es bereits Durchsuchungen. In Österreich, soweit wir wissen, noch nicht einmal freundliche Anfragen, doch bitte einige Unterlagen auszuhändigen.

Das folgende Diagramm zeigt die Entwicklung der von der „unabhängigen“ Opferschutzanwaltschaft positiv entschiedenen Fälle in den Zahlen, die in der beschriebenen Datenarchäologie pro Jahr festgestellt wurden:

Gestapeltes Balkendiagramm der Entwicklung der Fälle pro Zeiteinheit

Im Jahr 2021 wurden anscheinend besonders viele Fälle bearbeitet und bestätigt: 338 Fälle, das ist deutlich mehr als einer für jeden Werktag des Jahres! 2022 ging die Rate etwas zurück, auf 117, 2023 stieg sie jedoch wieder auf 146. Und wir sollten nicht vergessen, dass noch 178 Fälle in Bearbeitung sind – also mehr als genug für ein ganzes Jahr. Die Anzahl der Fälle in Bearbeitung steigt übrigens auch kontinuierlich an, also gibt es entweder mehr Meldungen oder eine längere Bearbeitungszeit.

Gefahr, dass Beweise verschwinden

Es ist Gefahr im Verzug, weil die Kirche selbst in ihrer Verfahrensordnung in Punkt D.3 dokumentiert, dass die Dokumente für die Untersuchung an die Glaubenskongregation (früher: Inquisition) gehen. Deutlicher wird der Vatikan auf der Seite ZU EINIGEN FRAGEN IN DEN VERFAHREN ZUR BEHANDLUNG VON FÄLLEN SEXUELLEN MISSBRAUCHS MINDERJÄHRIGER DURCH KLERIKER: „73. Die cann. 1719 CIC und 1470 CCEO sehen vor, dass die Originale aller Akten im Geheimarchiv der Kurie aufbewahrt werden.“

Dort sind sie für spätere Anfragen der österreichischen Behörden sicherlich gut gelagert und werden bereitwillig übergeben, um Verdachtsmomente zu prüfen. Oder?

Betroffene und Fälle

Die „Fälle“ sind übrigens nicht einzelne Taten, sondern betroffene Personen. Die Bischofskonferenz erklärt, dass 7.837 einzelne Vorfälle gemeldet wurden, also durchschnittlich mehr als 2,5 pro Person. Die durchschnittliche Entschädigung pro Person beträgt aktuell etwa 12.310 € und geht zurück – trotz Inflation, trotz Rekordeinnahmen aus Kirchenbeiträgen und den staatlichen Zahlungen an die Kirchen. Im Jahr 2021 betrug der Durchschnittswert pro betroffener Person noch über 13.000 €.

„62,7% der Betroffenen sind männlich, 37,3% weiblich.“ – Dies ist eine Konsequenz der traditionellen Benachteiligung von Frauen in der römisch-katholischen Kirche. Diese Verteilung zeigt aber auch, dass die katholische Kirche eine Sonderstellung bei sexueller Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen hat. In anderen Bereichen ist die Mehrheit der Opfer von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen weiblich und etwas älter.

Eine bisher nicht veröffentlichte Information findet sich seit der letzten Aktualisierung auf der Ombudsstellen-Seite: Die Altersverteilung der Opfer. 7,6 % waren jünger als fünf Jahre, 62,7 % 6 bis 12 Jahre alt, 28,1 % 13 bis 18 Jahre. Das sind in Summe nur 98,4 %? Was ist mit genau Fünfjährigen? Egal, Mathe ist nebensächlich, es geht nur um die Dokumentation jahrzehntelang vertuschter Verbrechen einer ehemaligen Staatskirche.

Unabhängigkeit, definiert durch die römisch-katholische Kirche

Mit der Einrichtung der „unabhängigen“ Opferschutzanwaltschaft ist der Kirche in Österreich eine sehr erfolgreiche PR-Maßnahme gelungen. Staatliche Stellen, aber auch die Öffentlichkeit und die Medien akzeptieren diese Einordnung. Warum steht dann „unabhängig“ hier konsequent unter Anführungszeichen?

Wir haben schon gesehen, regelmäßige Aktualisierungen gibt es nicht auf der Homepage der „Opferschutzanwaltschaft“, sondern bei der Bischofskonferenz. Eine Anfrage zu unklaren Zahlen auf ombudsstellen.at wurde im November 2023 innerhalb eines Arbeitstages von Dr. Paul Wuthe, dem Chefredakteur der Kathpress beantwortet – ja, die Rohdaten zur Tätigkeit der „unabhängigen“ Opferschutzanwaltschaft liegen der Katholischen Presseagentur direkt vor, anders hätten die Prozentsätze nicht neu kalkuliert werden können. Dabei sind bei der Opferschutzanwaltschaft lauter prominente Leute mit Universitätsabschlüssen angeführt, denen zumindest die korrekte Beherrschung der Prozentrechnung zuzutrauen wäre.

Aber der Reihe nach. Wie wird die Opferschutzanwaltschaft besetzt? „Die Beauftragung der Unabhängigen Opferschutzanwältin bzw. des Unabhängigen Opferschutzanwaltes erfolgt durch den Vorsitzenden der Österreichischen Bischofskonferenz im Einvernehmen mit der bzw. dem Vorsitzenden der Österreichischen Ordenskonferenz für jeweils fünf Jahre.“ Das ist keine atheistische Propaganda, sondern Paragraph 51 der Rahmenordnung, publiziert auf Ombudsstellen.at. Dr. Waltraud Klasnic wurde nach den enormen Skandalen im Jahr 2010 Leiterin der „unabhängigen“ Anwaltschaft. Ihre Bestellung wurde medial intensiv begleitet; dass seither zweimal eine Neubeauftragung notwendig wurde, war dann kein Thema mehr. Dazu äußern sich weder die Opferschutzanwaltschaft noch die Bischofskonferenz in öffentlich auffindbarer Weise. Deswegen habe ich direkt bei der Opferschutzanwaltschaft nachgefragt, und eine Antwort erhalten, in der genau diese Frage nicht beantwortet wurde. Das bedeutet wohl, dass es keine Dokumentation dieser Beauftragung alle fünf Jahre gibt, wahrscheinlich findet die für die Öffentlichkeitsarbeit erdachte Schmierenkomödie nicht einmal statt. Es fragt ja eh niemand nach, niemand kontrolliert diese Einrichtung.

Die unabhängige Waltraud Klasnic

Frau Klasnic, Jahrgang 1945, ist aktuell 78 Jahre alt. Sie könnte seit 18 Jahren in Pension sein, davon ist aber nichts zu merken. Sie wurde 1996 als erste Frau in Österreich als Landeshauptperson gewählt und übte dieses Amt bis 2005 aus. Nachher schied sie aus der Politik aus. Neben einer Beratungsfirma sammelte sie ehrenamtliche Tätigkeiten im Bereich der ÖVP und der römisch-katholischen Kirche. (Herwig Hösele, ihr Geschäftspartner bei der Beratungsfirma, spielt auch bei der Opferschutzkommission eine Rolle, er beantwortete meine Anfrage zur fehlenden Neubeauftragung von Waltraud Klasnic.) Zum Beispiel war sie bis 2022 Präsidentin von Hospiz Österreich, einem Dachverband, der viele religiöse Einrichtungen vertritt. Daneben war sie in mehreren Kinderschutz-Kommissionen tätig. 

Wie unabhängig ist sie von der katholischen Kirche? Nun, beim berüchtigten Gebetsfrühstücksabend im Parlament im Jahr 2020 leitete sie, damals schon 15 Jahre ohne politische Tätigkeit, ein Gebet. Eine Vertreterin des Parlaments war sie offensichtlich nicht. Sie ist auch seit 2002 Trägerin des „Großkreuzes des Päpstlichen Ritterordens des heiligen Gregors des Großen“,  der vom Papst verliehen wird und „der vierthöchste Orden für Verdienste um die römisch-katholische Kirche“ ist (Wikipedia). Gnadenlose Aufklärerinnen von sexuellem Kindesmissbrauch in der römisch-katholischen Kirche bekommen solche Auszeichnungen eher nicht, die Verdienste Frau Klasnics werden wohl einen anderen Hintergrund haben. (Herr Hösele hat den Orden übrigens auch. Gratulation!)

Dass Waltraud Klasnic in den 2010-er-Jahren im besten Pensionsalter neben Beratungs- und Aufsichtsratstätigkeiten noch eine energische Aufklärung im Bereich der Kirche, die sie früher schon für besondere Verdienste um die Kirche ausgezeichnet hat, betrieben hätte, kann man also glauben oder auch nicht. Aber selbst wenn: Die Aufgaben und Kompetenzen der „unabhängigen“ Opferschutzanwaltschaft sind eng begrenzt.

Die Rahmenordnung der katholischen Kirche

Die bereits mehrmals erwähnte „Rahmenordnung“ ist auf der Ombudsstellen-Seite nachzulesen und beschreibt, wie das ganze Verfahren von der Meldung des Missbrauchs bis zur Auszahlung der „frewilligen Finanzhilfen“ (die Wörter Entschädigung oder Wiedergutmachung kommen nicht vor), abläuft.

Betroffene melden sich bei einer Ombudsstelle, die natürlich von der Kirche betrieben wird. Der Fall kommt dann vor eine „diözesane Kommission“, deren Mitglieder, nicht überraschend, vom Bischof ernennt werden. Falls jemand, zum Beispiel um Retraumatisierung zu vermeiden, keinen Kontakt mit Kirchenmitarbeitern wünscht, hat sie oder er Pech gehabt: Selbst die „unabhängige“ „Opferschutzanwaltschaft“ meidet den Kontakt mit den Opfern und verweist sie auf ihrer Homepage an die Ombudsstellen.

Erst nachdem die Fälle in diesen kirchlichen Einrichtungen fertig durchgearbeitet sind, kommen sie zur „Opferschutzanwaltschaft“, die nach einem fixen Katalog die Höhe der Zahlung festlegt. Dann kommt der Fall nochmal zurück zur „Stiftung Opferschutz“, einer weiteren Einrichtung der römisch-katholischen Kirche. Dass die „Opferschutzanwaltschaft“ in diesem Verfahren etwa neue Fälle von sich aus aufklärt, systematische Zusammenhänge sucht (z. B. Priester, die von Ort zu Ort verschoben worden sind, nachdem Missbrauchsfälle bekannt wurden) oder sonst irgendwie nachforscht, ist im System einfach nicht vorgesehen. Es sind aber auch keine personellen Ressourcen dafür vorhanden.

Die Opferschutzkommission (-anwaltschaft)

Beide Namen werden regelmäßig verwendet. Die Rahmenordnung definiert eigentlich die Opferschutzkommission und die Opferschutzanwältin, bezeichnet das Gebilde dann aber eben auch als Opferschutzanwaltschaft. Auf der Webseite der Opferschutzanwaltschaft wird hauptsächlich Anwaltschaft genannt, teilweise aber auch Kommission.

Die Mitglieder der Kommission werden von der (wir erinnern uns, kirchlich bestimmten) Opferschutzanwältin ausgewählt. Dass Frau Klasnic niemanden etwa aus Betroffenen-Vereinen oder dem Humanistischen Verband berufen hat, ist bestimmt ein Versehen. Sie alle verrichten ihre Tätigkeit ehrenamtlich und es handelt sich großteils um Personen im Pensionsalter, so sie noch nicht verstorben sind. Bei den meisten steht im Lebenslauf mindestens eine Tätigkeit in Verbindung mit kirchlichen Einrichtungen. Die Gefahr atheistischer Umtriebe scheint in dieser Personengruppe nicht zu bestehen. Eine öffentliche Ausschreibung, ein Bewerbungsverfahren, die Bewertung von Qualifikationen nach objektiven Kriterien, das alles spielt keine Rolle und vermeidet die Gefahr, dass auch nur dieses kleine Rädchen in der kirchlichen Krisen-PR irgendwann mit kritischen Menschen, die an einer echten Aufklärung interessiert wären, besetzt werden könnte.

Ein Verein von Freiwilligen kann sich üblicherweise Statuten geben, und die Leitung und Vorstand selbst bestimmen. Aber das ist hier nicht vorgesehen. Der bereits zitierte Paragraph 51 regelt nicht nur die Bestellung der Opferschutzanwältin, sondern auch die willkürliche Zusammenstellung des Personenkreises durch sie. 

Was ist eigentlich die Opferschutzanwaltschaft für eine Organisation? Ein Verein ist sie nicht. Sie bezeichnet sich nicht so, im Vereinsregister findet sich nichts unter diesem Namen, und sonst gibt es auch keinen Hinweis darauf.

Ich war neugierig und habe bei der Opferschutzanwaltschaft direkt nachgefragt, unter anderem nach der Rechtsform. Die Antwort ist nichtssagend: Die Opferschutzkommission und Opferschutzanwaltschaft seien ein „freier zivilgesellschaftlicher Zusammenschluss“. Dieser Begriff existiert im österreichischen Recht nicht. Das ist keine Rechtsform für eine Organisation in Österreich.

Ohne Rechtsform sind bestimmte Dinge schwierig. Zum Beispiel das Anmieten eines Büros, die Beschäftigung von Mitarbeiter*innen, selbst das Festlegen von Aufgaben innerhalb der Gruppe. Ohne eine vernünftige Rechtsform haften die Mitglieder der Nicht-Organisation persönlich für alle Ansprüche, die gegen sie gestellt werden. Dass juristisch gebildete Menschen wie die ehemalige Bundeskanzlerin Dr. Brigitte Bierlein sich auf so etwas einlassen, ist etwas ungewöhnlich.

Die Opferschutzanwaltschaft hat aber ein Büro an der noblen Adresse Bösendorferstraße 2 in der Wiener Innenstadt. Eine Festnetz-Telefonnummer ist an jedem Wochentag vormittags erreichbar. Wie geht das? Die Rahmenordnung erklärt es wieder: „Die Österreichische Bischofskonferenz und die Österreichische Ordenskonferenz stellen der Unabhängigen Opferschutzanwältin bzw. dem Unabhängigen Opferschutzanwalt bzw. der unentgeltlich tätigen Unabhängigen Opferschutzkommission die notwendigen Mittel dafür zur Verfügung.“ (§ 51).

Unabhängigkeit in einem Innenstadtbüro, mit Personal, das von der Organisation, die man kontrollieren sollte, gestellt wird? In einem rechtlichen Rahmen, der über zwei Stufen die Ernennung durch die Kirche sicherstellt und kein öffentliches oder objektivierbares Bewerbungsverfahren vorsieht? Das Wort „unabhängig“ wird hier sehr weit gedehnt. 

Keine Aufklärung

Nach dem ersten Schock des Jahres 2010, in dem weltweit eine enorme Anzahl von Kindesmissbrauchsfällen in der römisch-katholischen Kirche und anderen Religionsgemeinschaften aufgedeckt wurde, wurden nach und nach Rufe nach einer systematischen Aufarbeitung laut. Auch wenn diese Aufarbeitungsmassnahmen sehr häufig von der Kirche selbst oder durch von ihr ausgewählte Gruppen (etwa Rechtsanwaltskanzleien) durchgeführt wurden: Sie brachten jedes Mal neue, schockierende Erkenntnisse über das Ausmaß der Taten und die Verantwortung der Kirche, die im sicheren Wissen, dass ihr nichts passieren kann, bekannte Täter einfach hin und her verschob, und damit neue Kinder gefährdete. Das Bild der Organisation in der Öffentlichkeit und die Weiterbeschäftigung der künstlich verknappten Ressource „Pfarrer, der einen Penis haben muss“ waren wichtiger als etwa der Schutz unschuldiger Kinder ahnungsloser, der Organisation wohl gesonnener Eltern.

Die wichtigste Methode dieser Aufarbeitungsberichte war der freie Zugang zu allen Archiven und Dokumenten  der Kirche. Nur so konnten Systematiken wie miteinander in Verbindung stehende Taten an unterschiedlichen Orten, nicht weiter behandelte Beschwerden, Verstöße gegen staatliches oder das Kirchenrecht aufgedeckt werden. Das alles passiert in der Opferschutzkommission nicht. Sie hat eine Webseite, die die Aufgaben beschreibt. „Gespräche“ und „Öffentlichkeitsarbeit“ (wofür?) sind dort angeführt, und „Dokumentation“. Wie ernst die Dokumentation genommen wird, haben wir ja gesehen – die „Opferschutzkommission“ veröffentlicht nicht einmal regelmäßig ihre eigenen Statistiken, das übernimmt die Bischofskonferenz-Medienabteilung für sie.
Damit haben wir also eine Gruppe von Menschen („Organisation“ wäre schon ein zu starkes Wort, „nützliche Idioten“ zu respektlos), die bewusst oder unbewusst ein schönes Schaufenster fürs Vertuschungs- und Geheimhaltungssystem der Kirche darstellt. Ohne öffentliche Kontrolle, ohne Beteiligung der Zivilgesellschaft, mit aktivem Ignorieren der echten Opferschutzverbände. Alles so von der Kirche vorgegeben und öffentlich dokumentiert. Mit einem Standardverfahren, das dafür sorgt, dass gemeldete Fälle mit immer geringeren Almosen abgespeist werden und die Dokumente aus Österreich in die Inquisitions-Nachfolgebehörde wandern. Wodurch jede systematische Aufklärung in den Archiven in der Zukunft in Frage gestellt wird.

Die Gesellschaft und die Republik Österreich verschließen beide Augen. Die Justiz ignoriert die öffentlich dokumentierte Zunahme von Fällen, die höchstwahrscheinlich noch nicht verjährt sind. Die Gesetzgebung lässt zu, dass die Täterorganisation ihre eigenen Verbrechen armselig mit Geldzahlungen „erledigt“, ohne öffentliche Debatte, ohne Massnahmen, die eine staatliche Verfolgung und Aufarbeitung mit sich brächten. Und in den Medien werden diese gut dokumentierten Tatsachen nicht einmal hinterfragt oder behandelt.

Der Österreichische Rundfunk hat eine eigene Religionsredaktion, die über Gerüchte von Papst-Reisen auf andere Kontinente, dann die Ankündigung der Reise, dann über jedes pseudowichtige Ereignis während der Reise, und dann eine nachträgliche Bewertung der Reise immer bestens informiert ist und diese Information auch in die Öffentlichkeit trägt. Das bindet natürlich Ressourcen, die dann für harten investigativen Journalismus mit Guerilla-Methoden wie „Webseiten lesen“ und „Anfrageformulare ausfüllen“ nicht mehr zur Verfügung stehen. Aber diese Informationen gehören in die Öffentlichkeit, sie müssten Gegenstand der öffentlichen Diskussion sein. Die römisch-katholische Kirche verliert heuer ihre Bevölkerungsmehrheit. Die wahrheitsgemäße Darstellung ihrer empörenden Realität kann heute kein Nachteil mehr für ein Medium sein, das es mit der Information der Öffentlichkeit ernst meint. 

Was tut die Republik?

Im Bereich des sexuellen Missbrauchs durch Angehörige von Religionsgemeinschaften herrscht in der Politik, zumindest jener in der Regierung, die Meinung vor, dass man bequem wegschauen kann, weil es eh die „unabhängige“ Opferschutzkommission gibt. Dass diese nur am Ende eines Verfahrens innerhalb der römisch-katholischen Kirche steht, nicht unabhängig ist und systembedingt nicht einmal die Möglichkeit hat, sich mit Fällen in anderen Religionsgemeinschaften zu beschäftigen, ignoriert die Republik einfach.

Vor kurzem gab es mehrere Fälle sexueller Gewalt an Kindern in einer Freikirche, die zu einer Verurteilung geführt haben (noch nicht rechtskräftig). Für diese Opfer und ihre Familien gab es keinen Ansprechpartner außer der Polizei – eine große Hürde. Der Täter wird vielleicht nach seiner Haftstrafe irgendwie irgendwann das Geld für Entschädigungszahlungen aufbringen – die römisch-katholische Kirche hat damit nichts zu tun, und andere Religionsgemeinschaften haben keine Mittel für diesen Zweck zur Verfügung gestellt.

Es ginge besser. Die Republik Österreich kann eine „Vertrauensstelle gegen Belästigung und Gewalt in Kunst, Kultur und Sport“ errichten und finanzieren. Dort wird Betroffenen aus diesen beiden Bereichen – aber eben nicht aus Religionsgemeinschaften – geholfen, ihre Meldungen entgegengenommen und der gesetzlichen Lage entsprechend dokumentiert, sie erhalten Unterstützung und Beratung. Die 16 anerkannten Religionsgemeinschaften? Fehlanzeige, eine von ihnen hat ja schon so etwas oberflächlich Ähnliches. Offensichtlich besteht kein Handlungsbedarf. Aber es werden jedes Jahr hohe zweistellige Millionenbeträge aus Steuermitteln an verschiedene Religionsgesellschaften überwiesen. (Diese Zahlungen kennen keine Verjährung.) Ein einziger Prozent davon in einem staatlichen Fonds würde eine zentrale, staatliche Anlaufstelle für alle Opfer aller Religionsgemeinschaften finanzieren, faire und realistische Entschädigungen, die korrekte Meldung an die Justiz und zuverlässig geführte Statistiken. Wäre das nicht besser als das heutige Nicht-System?

Fazit

Die Aufklärung und Verfolgung von sexueller und anderer Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in österreichischen Religionsgesellschaften ist in einem jämmerlichen Zustand, der die Prävention zukünftiger Fälle erschwert oder verhindert. Die Rechtsfiktion, dass dies eine innere Angelegenheit der Gesellschaften sei, verhindert eine effektive staatliche Kontrolle. Das einzige kirchlich eingerichtete Kontrollorgan kann nicht ernsthaft als unabhängig bezeichnet werden und dient hauptsächlich zur Beruhigung der Öffentlichkeit – einer Öffentlichkeit, deren Organe, die Medien, sich für dieses Thema nicht merkbar interessieren.

Gleichzeitig kommen regelmäßig Zahlen über immer mehr Verbrechen auf eine obskure Webseite, für die sich anscheinend kaum jemand interessiert. Dass die Zahlen nicht immer zusammenpassen, dass sie bei einer Presseagentur (!) in einem hohen Detailgrad liegen, zeigt, dass das Thema, das diese Zahlen beschreiben, für die Täterorganisation komplett nebensächlich ist. So nebensächlich, dass nicht einmal minimale Sorgfalts-Anforderungen eingehalten werden: Die Kontrolle der Addition vierstelliger Zahlen und die vertrauliche Speicherung dieser sensiblen Daten scheinen nicht gegeben zu sein.

Nachtrag und Nachruf

Während dieser Artikel entstand, verstarb Sepp Rothwangl, der ehemalige Obmann der Plattform Betroffener kirchlicher Gewalt. Er wurde als minderjähriger Schüler des Marieninstituts in Graz Opfer sexueller und anderer Gewalt, und für die Meldung der Vorfälle zusätzlich bestraft. Dieser gnadenlos und hinterhältig zerstörten Jugend zum Trotz wurde er zu einem Vorkämpfer für die Rechte der Betroffenen und auch einem Experten für Zeitrechnung. Er hinterlässt eine große Lücke in der atheistischen Szene in Österreich.

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