Österreich mehrheitlich nicht mehr katholisch

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Wir haben lang darauf gewartet, nun ist es Gewissheit: Die Mitglieder der römisch-katholischen Kirche haben in Österreich ihre Bevölkerungsmehrheit verloren. „Österreich ist ein katholisches Land“ ist ab jetzt eine Falschaussage. Die schnelle und in den letzten Jahren zunehmende Abwanderungsbewegung aus der katholischen Kirche trifft auf ein Bevölkerungswachstum, und das Ergebnis ist historisch.

Im September 2024 sind die offiziellen Zahlen der römisch-katholischen Kirche Österreichs fürs Vorjahr erschienen. Vorher waren wir auf Hochrechnungen und Schätzungen über den Mitgliederverlust im Jahr 2023 angewiesen; diese wurden allesamt übertroffen. Aber schon die alte, vorsichtige Prognose lautete: Im Herbst 2024 ist es soweit, Österreich hat keine katholische Mehrheit mehr. (Für HaarspalterInnen: Keine absolute Mehrheit mehr, nur eine relative.) Durch die höheren Austrittszahlen und sonstigen Verluste (großteils aus dem Defizit aus Taufen und Verstorbenen sowie durch Migration) war der katholische Bevölkerungsanteil schon zum Jahreswechsel auf 50,6 % gefallen, und der wahrscheinlichste Zeitpunkt der Unterschreitung der Bevölkerungshälfte fällt in den Juli. Jetzt, Ende September, ist es so sicher wie das Atmen im Gebet. (Widerlegung durch die Kirche einfach möglich: Sie muss nur die monatlichen Austritte des Jahres 2024 bekanntgeben.)

Das Schweigen der Medien

Wo ist eigentlich bei religion.orf.at die große Story zu diesem historischen Ereignis, das eine jahrhundertelange Entwicklung abschließt und zur Berechnung nur die Grundrechenarten erfordert? Danke für die Meldung „Papst sendet bei Überflug Grußbotschaft an Österreich“, wir wissen es zu schätzen! Was ist, der Standard? Die Presse? Krone? Nur das profil hat sich informiert und veröffentlicht in Ausgabe 39/2024 die aktuelle Verteilung: 49,8 % römisch-katholisch, 32 % konfessionsfrei. Leider werden wir wohl noch einige Jahre lang veraltete und falsche Informationen wie „77 % bekennen sich zu einer Religionsgemeinschaft“ lesen, weil es in Österreich keine klare staatliche Zuständigkeit für die Publikation aktueller Daten zu diesem Thema gibt. Dabei wäre es auch für die Parlamentsparteien und andere gesellschaftlich wichtigen Kräfte relevant zu wissen, wo die Mehrheiten liegen, welche Bevölkerungsgruppe konstant wächst und welche schrumpft, wessen Interessen überproportional vertreten sind und wessen Anliegen aus Unwissenheit ignoriert werden.

Die Zahlen der römisch-katholischen Kirche für 2023 zeigen Rückgänge in praktisch allen Bereichen. Ende 2023 gab es noch 4.638.842 KatholikInnen, übers Jahr wurden 85.163 Austritte gezählt. Das ist der dritthöchste jemals gemessene Wert und ist mit 1,79 % die zweithöchste Austrittsrate aller Zeiten. Der Mitgliederverlust war mit 91.421 ebenfalls der zweithöchste Wert und die gesamte Abgangsrate von 1,99 % überhaupt der Rekord, mehr gab es auch im Jahr davor nicht, als mit über 90.000 Austritten fast ein Prozent der gesamten Bevölkerung aus der katholischen Kirche austrat. 2023 konnte zwar diese Austritts-Anzahl nicht erreicht werden, aber die anderen Faktoren führten dazu, dass zum zweiten Mal hintereinander ein Prozent der österreichischen Bevölkerung die Kirche verließ.

Balkendiagramm: Austritts- und Abgangsrate aus der römisch-katholischen Kirche Österreichs bis 2023

Bis in die 2000er-Jahre hinein gab es mehr Taufen als verstorbene KatholikInnen. Dies kehrte sich jedoch um, und die Schere zwischen den (großteils unfreiwilligen) Zugängen und den natürlichen Abgängen wird immer größer. Diese und andere Analysen hat die Forschungsgruppe Weltanschauungen in einem lesenswerten Beitrag zusammengestellt.

Seit geraumer Zeit wird nicht einmal mehr die Hälfte der in Österreich geborenen Kinder katholisch getauft. Die Rückgänge in der Anzahl der Taufen rechnet sich die Kirche mit „demografischen Effekten“ schön – aber auch der Anteil der Neugeborenen, die getauft werden, wird immer kleiner. Auch bei Kindern von Eltern mit österreichischer Staatsbürgerschaft. Dies und die sich beschleunigende Austrittsbewegung führen dazu, dass der Mitgliederverlust sich exponentiell beschleunigt. Lange Zeit waren Abgangsraten unter 1 % der KatholikInnen üblich. Seit 2020 gab es jedoch kein Jahr mehr mit weniger als 1,5 %, und aktuell sind wir sehr nah an 2 %. 

Fehler, wo man hinschaut

Apropos Schönrechnen. In der Kommunikation von Zahlen ist die katholische Kirche jedes Jahr so stümperhaft, dass wir regelmäßig darauf hinweisen müssen. Die aktuelle Veröffentlichung bietet auch Highlights: „mit Stichtag 31. Dezember 2023 genau 4.638.842 Millionen Katholikinnen und Katholiken in Österreich“. Nein, Leute, so geht das nicht. Das ist ein Punkteabzug beim Mathe-Test der fünften Schulstufe. Entweder 4,64 Millionen oder die ausgeschriebene Zahl. Hier wird die 564fache Weltbevölkerung als Mitglied der österreichischen katholischen Kirche reklamiert. Da kommuniziert man eine Zahl, wie es (in der umgekehrten Richtung irrend) bisher nur das Finanzministerium unter dem legendär kompetenten Minister Gernot Blümel geschafft hat, der Republik ein Budget von lediglich 102.000 € vorzuschlagen.

Gleich im übernächsten Satz wird behauptet, dass der Rückgang von 2022 auf 2023 1,9 % betragen hätte. Wie das? Natürlich kann man 1,99 % falsch zu 1,9 % runden. 2 % wäre eigentlich die richtige Angabe. Eine alternative Erklärung ist, dass man mit gerundeten Zahlen gerechnet und 4,73 (Millionen) durch 4,64 dividiert hat. 2022 also ab- und 2023 aufrundet, dann kommen tatsächlich 1,939 % heraus, die man korrekt auf 1,9 % runden kann. Allerdings muss man dafür genau diese zwei Stellen bei beiden Zahlen verwenden, mit einer oder drei Stellen bei der Rundung der Millionen geht es sich nicht aus. Was auch immer die wirkliche Ursache ist, der zweite Punkteabzug beim Mathe-Test ist fix. Für ein Unternehmen mit einem Jahresbudget von 700 Millionen € (um wie viel verrechnen sie sich da?) ist das eine hochgradig peinliche Vorstellung.

Dass im Kasten „Kirchliche Statistik“ die Anzahl der KatholikInnen falsch auf 4,63 Mio. gerundet ist (richtig wären 4,64 Mio.), ist dann nur mehr ein Schönheitsfehler. Andere Prozentsätze von Entwicklungen sind teilweise richtig, teilweise falsch berechnet (die Sterbefälle laut Statistik Austria sind von 2022 auf 2023 um 3,8 % gefallen, nicht um 4,9 % wie vom Medienreferat der Bischofskonferenz ausverrechnet). Vielleicht sollte in der Theologie-Ausbildung mehr Augenmerk auf Statistik liegen?

Schön ist auch, dass einzelne Diözesen es schaffen, ihre KatholikInnen mit der Bevölkerung gegenzurechnen. Die Diözese Eisenstadt beginnt ihre Aufstellung sogar so: „Katholikenanteil im Burgenland beträgt 59,74 Prozent“. Die Gesamtkirche vermeidet das in den letzten Jahren, so wie auch die Erzdiözese Wien (katholischer Bevölkerungsanteil in Wien: 26,9 %). Nur die von der Statistik Austria 2021 ermittelte höhere Zahl, die den eigenen offiziellen Zahlen der Kirche widerspricht, wurde mit 55 % Bevölkerungsanteil kommuniziert. Zu jener Zeit war der wahre Bevölkerungsanteil, den die Kirche natürlich jederzeit kennt, zwischen 52 und 53 %. Aber das Schweigen ist verständlich: Ende 2023 lag der Bevölkerungsanteil bei 50,6 %. Auf diese Tatsache will die ehemalige Staatskirche in jenem Jahr, in dem sie ihre Bevölkerungsmehrheit verliert, klarerweise nicht so viel Aufmerksamkeit lenken. Aber das machen wir schon.

Die Zahl der Priester ist wieder stärker zurückgegangen als die der Mitglieder, und zwar um 2,5 %. Allerdings fiel die Anzahl der Pfarren noch stärker, um genau einhundert (3,4 %), auf 2.907. Viele Jahre lang lag die Anzahl knapp über 3.000. Ja, 2023 ist es ernst geworden mit der „Zusammenlegung“ (also Schließung) von Pfarren. Rechnerisch entfallen somit etwas mehr Pfarrer auf eine Pfarre als im Vorjahr. Diese und andere Entwicklungen, fast alle negativ, bezeichnet die Kirche auf ihrer Statistik-Seite für 2023 sehr gern als „stabil“, häufig mit einem Zusatz wie „relativ“ oder „weitgehend“. „Stabil“ kommt auf der Seite zwölfmal vor, „relativ stabil“ dreimal. Eine stabil optimistische Wahrnehmung seitens der Kirche, die derzeit jedes Jahr jedes fünfzigste Mitglied verliert.

Balkendiagramm: Katholische Priester und Pfarren 2008-2023
Diözesanpriester arbeiten in Pfarren. Ordenspriester nehmen üblicherweise nicht an der Kundenbetreuung teil, sondern haben andere Aufgaben in ihren Orden.

Wer zahlt den Spass?

Eine der wenigen Zahlen, die noch wachsen, sind die Einnahmen. Der größte Posten, die Kirchenbeiträge, werden jährlich erhöht, die Erhöhung orientiert sich an der Inflation. Also auch wenn jedes fünfzigste Mitglied in einem Jahr verlorenging: Die Einnahmen aus dem Kirchenbeitrag wuchsen um 2 % auf 511 Mio. €. Das ist deutlich unter der Inflation, in Realwert also ein Rückgang.

Heuer wurde die Steuerabsetzbarkeit der Kirchenbeiträge auf 600 € hochgesetzt, das heißt, jene Besserverdienende, die über 400 € Kirchenbeitrag im Jahr zahlen, bekommen jetzt mehr von der Steuer zurück. Diese Steuerabsetzung kostet uns alle im Staatsbudget 150 bis 200 Mio. €, und wächst mit der Summe der bezahlten und abgesetzten Kirchenbeiträge.

Eine Einnahmequelle ist deutlich ergiebiger gewesen als im Jahr davor: Die staatliche Direktzahlung. Sie ist um 10,5 % auf 61,5 Mio. €  angewachsen. Diese Zahlung, seit 1960 in Kraft, ist ursprünglich in einem „Vermögensvertrag“ mit dem Vatikan festgelegt und wächst regelmäßig. Die Kirche bezeichnet sie in ihren Aufstellungen als „staatliche Wiedergutmachung“ – was da konkret „wiedergutgemacht“ wird, und wann der angebliche Schaden komplett abgegolten ist, hat die Republik bisher weder durchgerechnet noch zur öffentlichen Diskussion gestellt. Mit dem Rückgang der Mitglieder zahlt ab jetzt die Mehrheit der EinwohnerInnen Österreichs den größeren Teil dieses Betrags (8,4 % des Gesamtbudgets der Kirche, Anteil wachsend) für die Minderheit. Dieses Thema gehört dringend öffentlich diskutiert, das Ziel muss sein, dass die Zahlungen nach den bisher geleisteten etwa 2 Milliarden Euro (frühere Schilling-Beträge nominal umgerechnet – mit heutigem Wert gerechnet 4,7 Milliarden) aufhören.

Austritte werden normal

Die massenhaften Austritte befördern in der Gesellschaft eine wichtige Entwicklung: Austreten ist normal und akzeptiert. Vor wenigen Jahren gab es noch Gruppen, in denen der Austritt sozial bestraft oder zumindest nicht gern gesehen wurde. Heutzutage kann man sich jedoch auf so viele, so allgemein akzeptierte Gründe berufen, dass das Verständnis dafür in den meisten Fällen vorhanden sein dürfte. Viele fortschrittlich Denkende mit der Vorstellung, die Kirche von innen zu reformieren, haben eingesehen, dass das in ihrem Leben nicht mehr passieren wird. Die ersten paar Menschen, die in landwirtschaftlich orientierten Dörfern aus der Kirche austreten, haben es am schwersten. Wenn die kritische Masse erreicht ist, und das dürfte mittlerweile vielerorts der Fall sein, haben es neue Austrittswillige viel leichter. Die Daten aus den Bundesländern zeigen, dass in den meisten von ihnen die Zahl der Austritte gegenüber dem Rekordjahr 2022 gewachsen ist – der österreichweite Rückgang fand hauptsächlich in Wien und Umgebung statt, wo jene, die austreten wollten, das längst erledigt haben.

Was können wir über die verbliebenen Mitglieder sagen? Der überwiegende Teil wurde hineingetauft, ohne gefragt zu werden. Die meisten von ihnen gehen noch zur Erstkommunion, mittlerweile verzichtet jedoch schon jede/r Fünfte auf die Bestätigung der Zugehörigkeit im Rahmen der „Firmung“ mit 14 Jahren. Das ist auch der Zeitpunkt, ab dem der eigene Kirchenaustritt möglich ist – vorher entscheiden darüber die Eltern. Analysen zeigen, dass der normale Weg in die Konfessionsfreiheit der Austritt aus einer Religionsgesellschaft ist, mindestens 40 % der heute lebenden Konfessionsfreien sind durch eigenen Entschluss, bewusst konfessionsfrei geworden. Kirchenmitgliedschaft ist fremdbestimmt, Konfessionsfreiheit selbstbestimmt.

Der Glaube an die katholischen Dogmen ist auch weit vom offiziell kommunizierten Bevölkerungsanteil entfernt. 7,5 % der angeblichen Katholiken waren beim stärksten Gottesdienst des Jahres zu Weihnachten – laut Katechismus wäre der regelmäßige Besuch verpflichtend. An GöttInnen glauben nach einer aktuellen Studie in Österreich nur mehr 22 % (gegenüber 35 % an eine „höhere Macht“). Das geht sich mit offiziell 49,8 % KatholikInnen nicht aus. Die Mehrheit der zur Religionsgesellschaft zugeordneten Menschen glaubt nicht an die zentrale Aussage dieser Religion – ihr Austritt ist nur mehr eine Frage der Zeit. Und mittlerweile flächendeckend auch online möglich.

Die Tage der römisch-katholischen „Volkskirche“ in Österreich sind gezählt. Sie hat heuer mit der Unterschreitung des 50-%-Anteils der Bevölkerung und einem sich beschleunigenden Abwanderungstrend die Richtung zu diesem Endpunkt aufgezeigt. Jetzt ist es wichtig, dass die Öffentlichkeit und die Politik die alte „Weisheit“, Österreich sei großteils oder mehrheitlich katholisch, schnell vergessen und beginnen, diese Kirche als eine von vielen, die jeweils eine Minderheit der Bevölkerung hinter sich weiß (aber auch nicht richtig), zu behandeln. Also als einen von vielen Akteuren der Zivilgesellschaft, aber ohne Vetorecht, ohne besondere Behandlung im Gesetzesgebungsprozess, ohne fixe Sitze in staatlich eingerichteten Gremien. Der Weg dorthin liegt klar vor uns, ist aber noch lang.

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