In Frankreich kam es nach dem schockierenden Bericht über hunderttausende kirchliche Missbrauchsfälle zu einer Diskussion über das Beichtgeheimnis in der katholischen Kirche und ob dieses über den staatlichen Gesetzen steht. Nun ist das Thema auch in Österreich angekommen, zumindest mit einem Versuchsballon im Kurier.
Missbrauchsskandal und Diskussion in Frankreich
Am 5. Oktober 2021 wurden die Ergebnisse der französischen Untersuchungskommission zu sexuellem Missbrauch in der dortigen katholischen Kirche präsentiert. 2.900 bis 3.200 Priester werden im Bericht angeführt, die ca. 216.000 Kinder und Jugendliche missbraucht haben. Die Gesamtzahl der Opfer im erweiterten kirchlichen Bereich liegt bei ca. 330.000.
Als eine der Massnahmen hat die Kommission empfohlen, das Beichtgeheimnis zu reformieren.
Die Beichte ist eine katholische Besonderheit, die andere christliche Kirchen so nicht kennen. Es geht darum, „Sünden“ und Verbrechen einem Geistlichen anzuvertrauen, der dafür religiöse Schein-Strafen vergibt, und der Schweigepflicht darüber unterliegt. Dies ist das Beichtgeheimnis.
Es gibt verwandte Konzepte von Berufsgeheimnissen: Die ärztliche Schweigepflicht, das Redaktionsgeheimnis und das Geheimnis der Kommunikation zwischen Anwalt und Klient. Diese sind sachlich begründet und nicht absolut. ÄrztInnen in Krankenhäusern sind z. B. verpflichtet, Anzeige zu erstatten, wenn sie an betreuten Kindern Anzeichen einer Misshandlung erkennen.
Im katholischen Kirchenrecht ist sexueller Kindesmissbrauch ein Verstoß gegen das Zölibat, also ein Verbrechen. Im lückenlosen Kontrollsystem der Kirche beichten auch Priester bei ihren Vorgesetzten ihre Sünden und Verbrechen unter der Annahme, dass das Beichtgeheimnis gilt. Das Rechtssystem eines Staates kann andererseits eine Anzeigepflicht bei schweren Verbrechen wie dem sexuellen Missbrauch Minderjähriger vorsehen — und das führt zum Konflikt.
Erzbischof Eric de Moulins-Beaufort erklärte in völliger Fehleinschätzung der öffentlichen Stimmung, das Beichtgeheimnis stehe auf jeden Fall über dem staatlichen Recht.
Nach einer Vorladung ins Innenministerium musste er seinen Irrtum korrigieren und erklären, dass natürlich nichts über den Gesetzen der Republik steht. (Kathpress hat „vergessen“, dies zu erwähnen.)
Vorstoß in Österreich
Es ist schwer, sich ein Szenario vorzustellen, in dem die Kirche gerade jetzt einen Vorteil von einer Diskussion über das Beichtgeheimnis in Österreich hätte. Der Skandal in Frankreich ist noch keine zwei Wochen her, das bewährte Schweigen über Kindesmissbrauch und Vorrechte von Religionsgemeinschaften wäre eigentlich eine logischere Strategie als eine Diskussion über das Beichtgeheimnis.
Trotzdem erschien im Kurier ein Artikel zum Thema, bei Recht und Religion ist eine Reproduktion. Auf Kathpress ist eine fast identische Version verfügbar, aber wie üblich nur 7 Tage offen zugänglich.
Ein „Experte“, der Wiener Kirchenrechtler Prof. Andreas Kowatsch, erklärt darin seine Sicht der Dinge und malt den Teufel staatlicher Eingriffe in die Freiheit der Religionsausübung an die Wand. (Der Kurier als selbsternanntes Qualitätsmedium hat es nicht für nötig befunden, auch einen Verfassungsrechtler zu dieser Frage zu konsultieren. Wozu auch, wenn eine klar nicht neutrale Quelle etwas als „undenkbar“ bezeichnet.) Prof. Kowatsch behauptet, dass das Beichtgeheimnis in der Verfassung geschützt sei:
„Das Beichtgeheimnis gehört zum Wesen des Sakraments der Beichte. Die Sakramente, die religiösesten aller Feiern, wenn man so will, innerhalb der katholischen Kirche stehen ganz im Zentrum dessen, was im Artikel 15 des Staatsgrundgesetzes unserer Verfassung geschützt ist und betreffen auch die individuelle Religionsfreiheit der Beichtenden.“
Die Sakramente in der österreichischen Verfassung? Normalerweise kann man bei Zitaten von AkademikerInnen davon ausgehen, dass im zitierten Text tatsächlich das drinnen steht, was die zitierende Person nennt. Bei Mitgliedern theologischer Fakultäten haben wir jedoch schon gelernt, lieber nachzusehen, weil man sich auf die Korrektheit der Zitate nicht verlassen kann (Beispiel 1, Beispiel 2). Dies ist Artikel 15 des Staatsgrundgesetzes:
Artikel 15.
Jede gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft hat das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung, ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig, bleibt im Besitze und Genusse ihrer für Cultus-, Unterrichts- und Wohlthätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonde, ist aber, wie jede Gesellschaft, den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen.
Bundespräsident van der Bellen lobt regelmäßig die Klarheit der Verfassung, auf die er sich in stürmischen Zeiten verlassen kann. Dieser Artikel ist auch sehr klar und verständlich formuliert.
Sakramente kommen darin nicht vor. Es ist auch nicht üblich, in einem Artikel noch einmal die Selbstverständlichkeit festzuhalten, dass die Gesetze tatsächlich gelten — im Fall der Kirchen hielt man das wohl für notwendig.
Die Beichte ist gerade keine öffentliche Religionsausübung, sondern eine private Handlung. Daraus eine „Feier“ zu konstruieren ist weit hergeholt. Sexuelle Straftaten gegen Minderjährige sind keine innere Angelegenheit der Kirche.
Für die Prüfung von Konflikten zwischen den Interessen der Gesellschaft und der Religionsgemeinschaften gibt es den Satanisten-Test: Angenommen, eine Religionsgemeinschaft bildet sich ein, jeden Freitag den 13. mit dem zeremoniellen Aufessen eines Kindes zu begehen — wie verhält sich hier die Religionsfreiheit zu den staatlichen Gesetzen? Niemand würde ernsthaft behaupten, dass die Gesetze hier Nachrang gegenüber der öffentlichen Religionsausübung hätten. Für ganz kreative und/oder begriffsstutzige Kirchenrechtler ist aber noch die Erinnerung in Artikel 15 enthalten.
Wir wissen bereits, wie die Frage in Frankreich beantwortet wurde: Der vorher so selbstsichere Erzbischof musste den Rückzug antreten und seinen Irrtum öffentlich korrigieren.
Hat in Österreich die Regierung den Mut, im Falle des Falles ähnlich zu handeln? In der aktuellen Koalition ruht die Hoffnung auf dem kompetent geführten Justizministerium. Artikel 15 des Staatsgrundgesetzes gibt jedenfalls bei sinnerfassendem Lesen ohne religös gefärbte Brille einen sehr starken Anhaltspunkt, wessen Gesetze Vorrang haben: Die des Staates oder jener Organisation, die kriminelle Mitglieder organisatorisch und mit fragwürdigem „Recht“ deckt.
Für seine weiteren Behauptungen (ein Priester dürfe von der Exekutive nicht befragt werden) nennt Prof. Kowatsch keine Quellen. Im Konkordat werden wir in Artikel XVIII fündig:
Die Geistlichen können von Gerichtsbehörden oder anderen Behörden nicht um die Erteilung von Auskünften über Personen oder Dinge ersucht werden, bezüglich deren sie unter dem Siegel geistlicher Amtsverschwiegenheit Kenntnis erhalten haben.
Also ja, diese Bestimmung im unsäglichen Konkordat, das längst als Ganzes gekündigt gehört, läßt sich wirklich so interpretieren. Aber warum wird dann das Grundgesetz, nicht das Konkordat zitiert? Vermutlich weil das eine beliebt ist, das andere aber bei jeder Erwähnung starke Gegenreaktionen nach sich zieht.
Prof. Kowatsch erwähnt die von der Kirche bevorzugte Lösung: Die Person, die die Beichte abnimmt, soll die beichtende Person überzeugen, die Straftaten zur Polizei zu bringen. (Also dürfen Geistliche das, was die unabhängige Justiz laut Konkordat nicht darf? Was für ein unwürdiger Kniefall vor dem Vatikan!)
Zum Konflikt zwischen Kirchen- und staatlichem Recht erwähnt er, dass die Strafe für die Verletzung des Beichtgeheimnisses die Exkommunikation sei — die katholische Höchststrafe, die übrigens für Kindesmissbrauch nicht verhängt wird. Der Papst kann jedoch die Exkommunikation rückgängig machen. AtheistInnen finden: Ja, entweder das Kirchenrecht reformieren, wo es gegen die Vernunft verstößt, oder die lächerliche Exkommunikation in so einem Fall, wenn jemand das Richtige tut, zurücknehmen.
Zum Schluss fantasiert Prof. Kowatsch noch Konsequenzen für den Staat herbei, wenn dieser ins Beichtgeheimnis eingriffe: Ihm zufolge drohten „große Kollateralschäden“, und der Staat würde bestimmen, was „Menschen religiös zu denken haben und was nicht“. Diese Ausführungen sind absurd: Aus der Klarstellung, dass das Beichtgeheimnis im Falle einer gesetzlichen Anzeigepflicht zurückzustehen hat, folgen in keiner Weise Eingriffe in die Freiheit, „religiös zu denken“, was man will.
Der Versuch, die Diskussion in die von der katholischen Kirche gewünschte Bahn zu lenken, misslingt bei genauer Betrachtung der Gesetze. Das Grundgesetz ist erfreulich klar und weist die Kirche in die Schranken; das Konkordat zeigt wieder einmal, wie unnötig und schädlich ein fast 90 Jahre alter Staatsvertrag mit einer absolutistischen Theokratie ist.
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