Warum leuchtet das Parlament rot?

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Wer diese Woche in der Wiener Innenstadt spaziert, könnte überrascht feststellen, dass das Parlament, das Bundeskanzleramt und einige Kirchen rot beleuchtet sind. Das ist keine Solidaritätserklärung mit der neuen Stadtregierung von Graz, sondern der von den Kirchen ausgerufene „Red Wednesday“.

Zwischen dem 17. und 21. November (ein laaanger Mittwoch) soll mit der blutroten Beleuchtung auf die „weltweite“ Unterdrückung von Christen aufmerksam gemacht werden. Moment mal, weltweit? Welche Länder in Nord- und Südamerika und Australien wurden nicht mit Gewalt christianisiert, was bis heute nachwirkt? Wo werden auf diesen Kontinenten und in Europa Christen verfolgt? In Wirklichkeit geht es hauptsächlich um einzelne Länder in Afrika und Asien.

Wir kennen natürlich die Klagen über „religiöse Diskriminierung“, wenn Christen in demokratischen Ländern das befolgen müssen, was für alle gilt: Ob bei Corona-Maßnahmen oder beim Verbot, andere Menschen zu diskriminieren. Aber dieser Christenverfolgungs-Wahn kann wohl nicht gemeint sein.

Hinter der Aktion steht „Kirche in Not“, ein Verein, der zur größten und reichsten Glaubensgemeinschaft der Welt gehört. Diese hat es wie so oft geschafft, Organe des demokratischen Österreichs für ihre einseitige Propaganda zu vereinnahmen. Wir erinnern uns noch gut ans umstrittene „Gebetsfrühstück“ im Parlament im Dezember 2020, dessen Live-Übertragung vom Steuerzahler finanziert wurde. Jetzt geht es um Strom, Technik und Arbeitszeit, wohl wieder auf Kosten der Öffentlichkeit, im Dienst einer fragwürdigen Propaganda-Aktion.

Es gibt viele Regionen, in denen Demokratie, öffentliche Sicherheit und Religionsfreiheit nicht gewährleistet sind. In solchen Staaten und Gebieten werden alle Angehörigen aller religiöser Minderheiten unterdrückt, an der Ausübung ihrer Religion gehindert, im schlimmsten Fall ermordet. (Im europäischen Raum wurde das Konzept einer verbindlichen, mit Gewalt durchgesetzten Staatsreligion vom Christentum im Römischen Reich entwickelt.) Ob schiitische Moslems in sunnitischen Gebieten oder umgekehrt oder Aleviten in vielen Gebieten; Moslems durch Hindus in Indien und Hindus in Pakistan. JüdInnen können in manchen Bezirken von Paris nicht mehr unbehelligt leben, geschweige denn in manchen Ländern im Nahen Osten. Der letzte religiös motivierte Völkermord in Europa fand an Moslems in Bosnien statt und ist noch keine 30 Jahre her. Die Ausführenden: Christen. Und auch Christen sind in manchen Ländern einer Verfolgung ausgesetzt. Die Begründung ist häufig, dass sie missionieren. Das weisen sie, wo es gerade opportun ist, weit von sich — während der Vatikan gleichzeitig einen Monat der Mission ausruft und betont, dass das die Pflicht aller Christen ist. Das Phänomen, dass religiöse Missionare zu den letzten unkontaktierten Völkern gehen, und ihnen neben der „frohen Botschaft“ von ewigen Höllenqualen auch tödliche Krankheitserreger überbringen, ist ein rein christliches. Bolsonaro setzt sich mitten in der Corona-Pandemie in Brasilien über Gesetze hinweg, um ihnen das zu ermöglichen. Zu Hause gibt es dann Auszeichnungen für die MissionarInnen, die Menschen mit „Ahnenglauben“ (in der christlichen Logik also minderwertig, klingt wohl nur zufällig wie Aberglauben) das neue leere Versprechen einreden konnten. Der Direktor der Missio bezeichnet sie als Esel und meint das als Kompliment. Unsere Fantasie reicht nicht aus, um sowas zu erfinden, aber Berufschristen liefern zuverlässig die Realsatire.

Jedoch darf man nicht vergessen, dass diese religiöse Verfolgung meist im Namen einer anderen Religion geschieht, also religiös motiviert und teilweise sogar angeordnet ist. Die Abkehr von der Religion, oder auch nur der Wechsel zu einer anderen Variante wird häufig mit sozialer Ausgrenzung und dem Verlust der familiären Bindungen, aber in manchen Fällen auch mit dem Tod bestraft — wie zum Beispiel im islamischen Scharia-Recht. In manchen US-Bundesstaaten sind noch immer Gesetze in Kraft, die AtheistInnen von öffentlichen Ämtern ausschließen. Das Arbeitsrecht mitten in Europa ermöglicht es Einrichtungen in kirchlichem Besitz, Arbeitnehmende aus religiösen Gründen zu diskrimieren, in den gleichen Ländern steht „Herabwürdigung religiöser Lehren“ noch im Strafgesetzbuch. Konfessionslose finanzieren mit ihren Steuergelden fragwürdige religiöse Zwecke mit. Dies sind weitere, von Politik, Medien und Religionsgemeinschaften gern übersehene Aspekte der religiösen Verfolgung, Unterdrückung und Benachteiligung.

Leid gegeneinander aufzurechnen ist nicht sinnvoll. Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass die religöse Verfolgung Angehörige aller Weltanschauungen trifft, und weniger eine Folge der konkreten Religion der Opfer, sondern des Verhaltens der Regierenden und der Mehrheitsbevölkerung ist. Die beste Art, religiöse Verfolgung zu reduzieren, ist die Einführung und Unterstützung demokratischer und säkularer Regierungsformen, mit voller und auch konsequent durchgesetzter Religionsfreiheit (inklusive des Rechts auf Freiheit VON Religion), ohne Vorrechte für einzelne Religionsgemeinschaften. Wo sind die Christen, die sich in Ländern mit christlicher Mehrheit dafür einsetzen, statt es nur für andere Länder zu fordern? Wo sind jene, die gegen völkerrechtlich vereinbarte Sonderrechte für eine Religionsgemeinschaft, die ihre Vertreter in der Gesellschaft bevorzugen, eintreten?

Die Gesetzgebung und die Regierung Österreichs sollten sich wirklich nicht für die einseitige Propaganda der  Christenverfolgung einspannen lassen. Die UNO hat einen Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer von Gewalthandlungen aufgrund der Religion oder der Weltanschauung, den 22. August. Das säkulare Österreich sollte seine Gebäude an diesem Tag beleuchten! Und eine angemessenere Farbe wäre Weiß, die Vereinigung aller Lichtfarben. Damit würde man symbolisieren, dass alle Religionen und Weltanschauungen Opfer und Täter zugleich sein können.

Ein demokratischer, selbstbewusster säkularer Staat in Europa würde damit das Signal aussenden, dass es statt der Bevorzugung einzelner Religionen für das Recht aller Menschen, ihren Glauben oder Nichtglauben frei zu leben, eintritt.

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